Neurodermitis - Was stimmt, was nicht?
Ein Leben ohne Juckreiz? Viele Menschen mit Neurodermitis haben den Glauben daran verloren. Auch deshalb, weil sich um das Thema viele Mythen ranken. Hautärzte sprechen Klartext.
Univ. Prof. Dr. Paul Sator, Msc
1. Oberarzt der Hautabteilung, Klinik Hietzing
Univ. Prof. Dr. Paul Sator, Msc: Neurodermitis ist eine chronisch-entzündliche Hauterkrankung. Der Begriff „Neurodermitis“ entstand, weil man früher davon ausging, dass ihr alleinig eine Entzündung der Nerven zugrunde liegt („Neuron“ für Nerv, „Derma“ für Haut und „-itis“ für Entzündung). Diese Annahme ist überholt. Dass jedoch ein Zusammenhang mit dem Nervensystem besteht, konnten wir anhand von Nervenmessungen im Rahmen einer Studie an der Klinik Hietzing belegen.
Im medizinischen Bereich spricht man heute stattdessen von „atopischer Dermatitis“. Die Ursachen dieser Erkrankung sind noch nicht vollständig geklärt. Patienten haben häufig eine defekte Hautbarriere und ihr Immunsystem reagiert stark auf bestimmte Umweltreize. „Atopisch“ bezeichnet die Neigung zu Überempfindlichkeit und „Dermatitis“ steht für eine Entzündung der Haut. Da diese auch andere Organe betreffen kann, ist die atopische Dermatitis eine systemische Erkrankung.
Univ. Prof. Dr. Paul Sator, Msc: Die Symptome der Neurodermitis sind in erster Linie auf der Haut zu sehen. Als systemische Erkrankung beeinflusst sie jedoch den gesamten Organismus und geht oft mit Begleiterkrankungen einher. Rund 43 Prozent der erwachsenen Patienten mit schwerer Neurodermitis leiden unter neurologischen Erkrankungen, Angstzuständen oder Depressionen. Auch Allergien oder Krankheiten an anderen Organen wie der Lunge werden mit Neurodermitis assoziiert.
Die Therapie hängt vom Schweregrad der Erkrankung ab. Die äußerliche Behandlung mit Salben und Cremes unterstützt die Barrierefunktion der Haut. Bei leichten Beschwerden wird eine lokale Behandlung der betroffenen Hautstellen mit medizinischen Wirkstoffen empfohlen. Auch eine Lichttherapie – also die Bestrahlung mit ultraviolettem Licht – ist möglich. Bei mittelschweren bis schweren Fällen kann eine systemische Therapie helfen: Die Betroffenen erhalten spezielle Medikamente, die das Immunsystem beeinflussen und die Entzündung regulieren. In diesem Bereich wird aktuell viel geforscht und neue Therapieansätze sind am Entstehen beziehungsweise bereits verfügbar.
Univ. Prof. Dr. Paul Sator, Msc: Die Allergien verursachen nicht die Neurodermitis, sondern umgekehrt: Erkrankte haben ein erhöhtes Risiko, eine Allergie zu bekommen. Diese kann sich nicht nur über die Haut, sondern auch über die Atemwege äußern, durch Heuschnupfen oder Asthma, oft in Kombination. Auch Kontaktallergien, also allergische Reaktionen auf bestimmte Substanzen – oder Lebensmittelallergien kommen vor.
Das Erkennen und Vermeiden von Allergieauslösern kann Betroffenen helfen, ihre Neurodermitis besser in den Griff zu bekommen. Aber es wird sie nicht vollständig zum Verschwinden bringen, weil die Ursache nicht in externen Faktoren, sondern im körpereigenen Immunsystem liegt. Wer sich nicht sicher ist, was die Schübe auslöst, sollte mit seiner Ärztin oder seinem Arzt sprechen.
Univ. Prof. Dr. Paul Sator, Msc: Es gibt grundlegende Tipps, die alle Neurodermitis-Patienten befolgen sollten: die Pflege der Haut mit rückfettenden Produkten, weniger Stress, Entspannungsübungen und Allergieerreger so gut es geht vermeiden. Eine leichte Linderung der Beschwerden lässt sich durch die richtigen Materialien der Kleidung – zum Beispiel Baumwolle statt Wolle – erzielen. Doch es stimmt nicht, dass erkrankte Personen nur diese Dinge beachten müssen, um gesund zu werden. Am besten lässt sich die Neurodermitis in den Griff bekommen, indem Betroffene mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt die geeignete Strategie besprechen.
Univ. Prof. Dr. Paul Sator, Msc: Die Ursachen von Neurodermitis sind noch nicht endgültig geklärt. Neben genetischen Faktoren spielen etwa auch Umwelteinflüsse eine Rolle. Dass sich die Neurodermitis auswächst, kommt am ehesten bei Säuglingen oder Kleinkindern vor – wobei die Neigung dazu bleibt. Erkrankt man später, ist das Risiko lebenslanger Beschwerden hingegen höher. Leider ist Neurodermitis bis heute nicht heilbar. Dazu kommt: Die genetische Veranlagung (Atopie) wird weitervererbt. Diese kann Neurodermitis und andere atopische Krankheiten wie Heuschnupfen und allergisches Asthma oder auch Psoriasis auslösen. Ein Lichtblick ist, dass seit einigen Jahren intensiv an neuen Behandlungsmethoden geforscht wird. Ein Besuch bei der Hautärztin oder beim Hautarzt ist der erste Schritt, um sich über neue Therapien zu informieren.
Dr. Sylvia Hackl
Fachärztin für Haut- und Geschlechtserkrankungen am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee
AGNES-Neurodermitistrainerin
Dr. Sylvia Hackl: Trockene Haut ist nur eines der vielfältigen Anzeichen von Neurodermitis. Durch die gestörte Hautbarriere kommt es zu Entzündungen und oftmals starkem Juckreiz. Altersabhängig treten die Ekzeme an unterschiedlichen Körperstellen auf. Babys haben sie zumeist am Rumpf, am Kopf und im Gesicht – Kinder und Erwachsene häufig in Ellenbogenbeugen und Kniekehlen.
Das Jucken und dessen Konsequenzen wie Schlafstörungen können sehr fordernd für Betroffene und Angehörige sein. Neurodermitis ist daher viel mehr als „nur“ trockene Haut.
Dr. Sylvia Hackl: Dieser Mythos stimmt nur zum Teil. Stress – auch positiver Stress wie eine Geburtstagsfeier – kann ein Triggerfaktor sein und einen Schub auslösen. Das verursacht wiederum weiteren Stress und die Erkrankung kann sich verschlimmern. Stressbelastungen sind aber nicht der Entstehungsgrund für Neurodermitis. Dafür ist das Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich: von einer Neigung zur Fehlleitung des Immunsystems über genetische Veranlagung bis zu Umwelteinflüssen wie etwa grobe Wollkleidung oder Heizungsluft.
Wenn Stress die Symptome verschlechtert, sollten Patienten mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt darüber sprechen. Hautärzte informieren zum Beispiel über Entspannungstechniken wie autogenes Training und progressive Muskelentspannung. Auch psychologische Unterstützung kann für viele Betroffene eine Entlastung bringen.
Dr. Sylvia Hackl: Die Antwort darauf ist eindeutig: Nein, das stimmt nicht mehr. Es existieren mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Belege, dass das Immunsystem des Körpers eine wichtige Rolle bei Neurodermitis spielt. Und dieses neue Wissen über die tieferen Ursachen der Erkrankung machen sich Dermatologen zu eigen.
Heute gibt es für alle Grade von Neurodermitis die richtige Behandlung – von der Basispflege mit Cremes und Lotionen über anti-entzündliche Salben und die Bestrahlung mit ultraviolettem Licht bis hin zur systemischen Therapie mit Biologika oder sogenannten kleinen Molekülen. In den letzten Jahren wurde intensiv an wirksamen Behandlungsmöglichkeiten geforscht. Neue Methoden sind bereits am Markt. Es lohnt sich also, sich von der Ärztin oder dem Arzt beraten zu lassen!
Dr. Sylvia Hackl: Die Basispflege mit Cremes und Salben schützt die Hautbarriere und ist wichtig für alle Neurodermitis-Patient*innen. Sie hilft der Haut dabei, die Feuchtigkeit und den Fettgehalt zu behalten. Aber: Je nach Schweregrad gibt es eine große Bandbreite an weiteren Behandlungsmöglichkeiten. Bei milden Verläufen wird Pflege mit unterschiedlichen Wirkstoffen angewandt. Bei höherem Schweregrad kommen kortisonhaltige oder antientzündliche Cremen zum Einsatz.
Ist der Krankheitsverlauf moderat, wird oft eine Lichttherapie – eine Bestrahlung mit ultraviolettem Licht – empfohlen. Auch Wickeltherapien oder das Erlernen von Entspannungstechniken können zur Linderung beitragen. Bei mittelschweren bis schweren Fällen werden systemische Medikamente als Tabletten oder in Injektionsform eingesetzt. Diese greifen gezielt in das Immunsystem von Betroffenen ein und regulieren so die Entzündung. Auch standardisierte Schulungsprogramme – wie AGNES (Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulungen) – helfen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Dr. Sylvia Hackl: Betroffene bilden sich den Juckreiz nicht ein. Dieser ist eine natürliche Reaktion des Körpers. Patienten sollten sich allerdings so wenig wie möglich kratzen. Das führt nämlich zu einer stärkeren Entzündung und zu noch mehr Juckreiz. Dem Kratzdrang zu widerstehen ist alles andere als leicht – viele kämpfen mit Schuldgefühlen, wenn sie es doch tun. Abhilfe schafft vor allem Ablenkung, etwa durch einen Spaziergang. Auch Alternativen wie kühlende oder fett-feuchte Umschläge und das Anwenden von Entspannungsverfahren wie progressive Muskelentspannung werden empfohlen. Zudem gilt: Ein Abklopfen oder Reiben der juckenden Stelle ist besser, als sie zu kratzen.
Jeder Betroffene sollte selbst ausprobieren, was hilft und guttut. Falls zum Beispiel eine starke Hausstaubmilbenallergie vorliegt, kann eine Immuntherapie Verbesserung schaffen. Ein Tipp ist, Triggerfaktoren so gut es geht zu vermeiden. Anhaltender Juckreiz ist ein Zeichen, erneut mit der Ärztin oder dem Arzt über Behandlungsmöglichkeiten zu sprechen.
Dr. Martina Schütz-Bergmayr
Hautärztin mit Ordination in Linz
Dr. Martina Schütz-Bergmayr: Neurodermitis ist vordergründig auf der Haut zu sehen, der Ausschlag ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Denn es handelt sich dabei um eine sogenannte systemische Erkrankung. Das heißt, unter der Haut wütet eine Entzündungsreaktion, die den ganzen Körper betrifft. Der starke Juckreiz führt bei vielen Patienten auch zu Schlafstörungen und Konzentrationsproblemen. Zudem können Betroffene Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Allergien haben.
Neurodermitis kann erkrankte Menschen im Alltag und im Berufsleben massiv beeinträchtigen. Sie müssen sich für sichtbare Ekzeme rechtfertigen und fühlen sich stigmatisiert. Psychische Auswirkungen wie Depressionen oder Angstzustände sowie neurologische Erkrankungen sind unter Patienten häufig anzutreffen.
Dr. Martina Schütz-Bergmayr: Das ist nicht korrekt – obwohl Neurodermitis bei Säuglingen und Kleinkindern besonders stark vorkommt. In Österreich leiden zum Beispiel 18 bis 27 Prozent der Kinder im ersten Lebensjahr darunter. Im Gegenzug dazu liegt die Prävalenz – also das Vorkommen von Neurodermitis – bei Erwachsenen nur zwischen 2 und 5 Prozent . Bis zur Pubertät werden viele betroffene Kinder die Erkrankung wieder los, die Neigung dazu bleibt jedoch bestehen.
Darüber hinaus gibt es Neurodermitis-Patienten, die in der Kindheit keine Symptome hatten. Sie erkranken erst im Erwachsenenalter. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die generelle Prävalenz stark zunimmt. Kinder und Erwachsene sind davon gleichermaßen betroffen. Zudem erkranken Frauen häufiger an Neurodermitis.
Dr. Martina Schütz-Bergmayr: Die wichtigste Therapie ist die Basistherapie mit Cremes und Lotionen ohne medizinische Wirkstoffe. Denn bei Menschen mit Neurodermitis ist die natürliche Hautbarriere gestört. Zum besseren Verständnis ziehe ich gerne das Beispiel einer rissigen Mauer heran. Damit die Mauer wieder stabiler wird, benötigen wir Kitt. Dieser Kitt ist bei Neurodermitis-Patienten die Basispflege. Sie sorgt dafür, dass die Hautbarriere ihre schützende Funktion behält und keine Keime hindurch gelangen können.
Erst bei akuten Schüben verwenden wir kortisonhaltige Salben. Kortison hat – mit Bedacht eingesetzt – eine sehr gute, juckreizstillende Wirkung und wird zu Unrecht verschmäht. Zudem gibt es auch kortisonfreie Heilsalben, die proaktiv gegen die Entzündung wirken. Andere Möglichkeiten zur Behandlung von Symptomen sind Antihistaminika oder eine Lichttherapie – also die Bestrahlung mit ultraviolettem Licht. Letztere ist nur bei Erwachsenen möglich.
Auch Wickeltherapien mit Feuchtumschlägen oder der Aufenthalt in Gegenden mit förderlichem Klima – wie zum Beispiel im Gebirge oder an der Nordsee – können zur Linderung der Symptome beitragen. Bei mittelschweren bis schweren Fällen hilft eine systemische Therapie. Dabei werden Medikamente eingesetzt, die direkt auf das Immunsystem wirken und Entzündungsfaktoren hemmen. In diesem Bereich wurden in den letzten Jahren viele Fortschritte gemacht.
Dr. Martina Schütz-Bergmayr: Früher hieß es, Neurodermitis-Patienten sollen so wenig duschen oder baden wie möglich. Der vermutete Grund war, dass es die Haut austrocknet. Von dieser Einstellung sind wir mittlerweile weggekommen. Heute wird Betroffenen in Österreich und Deutschland empfohlen, regelmäßig zu duschen oder zu baden. Ich rate allerdings dazu, es nicht zu übertreiben. Rund 10 bis 15 Minuten reichen, sonst quillt die Haut zu stark auf.
Die Idee hinter dem regelmäßigen Waschen ist, durch das Wasser Keime auf der Haut zu reduzieren. Wie häufig geduscht oder gebadet werden sollte, kommt aber individuell auf die Person mit Neurodermitis an. Am besten ist, auf den eigenen Körper zu achten und herauszufinden, was ihm gut tut. Für alle Betroffenen gilt zudem: Nach dem Duschen oder Baden sollten sie eine Basispflege verwenden und sich gut eincremen. So wird die Haut rückgefettet.
Dr. Martina Schütz-Bergmayr: So einfach ist es leider nicht – denn nicht alle Betroffenen haben automatisch eine Nahrungsmittelallergie. Oft werden Schübe fälschlicherweise auf Lebensmittel zurückgeführt. Dabei gibt es eine Vielzahl an anderen Triggerfaktoren wie Stress, bestimmte Kleidungen, Hitze oder Kälte. Im Internet sehen wir abstruse Theorien und Essenspläne, die sogar zu Mangelernährungen führen. Aus ärztlicher Sicht gibt es keine Empfehlung für eine generelle Ernährungsanpassung.
Wichtig ist, mögliche Unverträglichkeiten mit der Ärztin oder dem Arzt auszuschließen. Eine Ernährungsumstellung sollte erst durchgeführt werden, wenn sie empfohlen wird. In den Griff bekommen Betroffene Neurodermitis nur, indem sie mit Hautärzten über passende Behandlungen sprechen. Gemeinsam kann die beste Strategie ausgewählt werden. Seit einiger Zeit wird intensiv an neuen Methoden geforscht – diese sind teils schon am Markt. Nachfragen lohnt sich!